Das Staatsarchiv Obwalden hat über 6300 Strafuntersuchungsdossiers aus den Jahren 1803–1867 erschlossen. Der Bestand erlaubt tiefe Einblicke in die bisher kaum erforschte Obwaldner Strafjustiz und in das Leben der Obwaldnerinnen und Obwaldner in einer Zeit grosser politischer Umbrüche.
Im Staatsarchiv Obwalden schlummerte bis vor Kurzem ein einzigartiger historischer Schatz: Über 6300 Strafuntersuchungsdossiers aus den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts lagen unerschlossen im Magazin des Staatsarchivs. Nun wurden die Akten erstmals archivgerecht verpackt und nach Personennamen verzeichnet. Der Bestand umfasst alle zeitgenössischen Straftaten von der unehelichen Schwangerschaft bis zum Mord und enthält neben Verhörprotokollen auch Gutachten und Beweismittel. Für die Geschichte des Kantons ist dieser Fund von unschätzbarem Wert, erlaubt er doch erstmals Einblicke in die bisher kaum erforschte Obwaldner Strafjustiz in einer Zeit grosser politischer Umbrüche.
Justiz ohne Gewaltenteilung
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts existierte zwischen der Obwaldner Regierung und den Strafbehörden noch keine Gewaltenteilung. Der Rat urteilte nicht nur über Straffälle, sondern leitete auch die Strafuntersuchung, nahm Verhöre auf und entschied über die Anwendung von Folter. Auch die Kantonsverfassung von 1850 brachte keine Gewaltenteilung: Vielmehr lagen Strafuntersuchungen und Strafjustiz nun in den Händen des neu geschaffenen Regierungsrates, der weiterhin die Untersuchungen leitete, die Verhöre aufnahm und «in der Eigenschaft eines Kriminal- und Polizeigerichtes alle Kriminal- und Polizeistraffälle sowie die Vaterschaftsvergehen» beurteilte (Kantonsverfassung 1850, Art. 59 und 60). Diese Machtkonzentration führte dazu, dass sich das Obwaldner Justizwesen im 19. Jahrhundert wiederholt mit dem Vorwurf der Willkür und des Machtmissbrauchs konfrontiert sah.
Dank der Strafuntersuchungsakten kann erstmals untersucht werden, wie sich die fehlende Gewaltenteilung, aber auch die grossen politischen und rechtlichen Umbrüche der Zeit – etwa das Ende der Helvetik oder die Bundesverfassung von 1848 – auf die Strafpraxis in Obwalden auswirkten.
Die Strafuntersuchungsakten bieten zudem einzigartige Einblicke in das Leben der Menschen, die im 19. Jahrhundert in Obwalden wohnten und arbeiteten, liebten und stritten. Mehrere Tausend Obwaldnerinnen und Obwaldner hinterliessen in den Akten ihre Spuren – darunter viele, über die wir sonst kaum etwas wüssten. Dazu zählen beispielsweise viele Frauen, die wegen unehelicher Schwangerschaften in die Mühlen der Justiz gerieten und deren Schicksale in den Akten oft über mehrere Jahre hinweg verfolgt werden können. Weil die Behörden in den Akten auch Beweismittel sammelten, sind zahlreiche persönliche Dokumente der Verdächtigen erhalten geblieben – etwa Reisepässe, Notizbücher, Schuldscheine, Lotterietickets, Gebete, Schmähschriften und Liebesbriefe. Da die Akten nach Personennamen erschlossen wurden, können sie nun auch für Familienforschung genutzt werden.
«Archivfenster» bietet ersten Einblick in die Akten
Zwei aktuelle «Archivfenster» auf der Webseite des Kantons Obwalden (Staatsarchiv) bieten einen ersten Einblick in die Strafuntersuchungsakten. Erzählt werden darin unter anderem die Geschichte eines Mordes auf dem Pilatus, die Geschichte einer Frau, die aus der Sarner Strafanstalt floh, und die Geschichte eines Pfarrers und seines Geliebten.